Wegeunfälle

Aktuelles

Keine einschränkenden Kriterien bei einem Wegeunfall vom dritten Ort - Bundessozialgericht, Urteile vom 30.01.2020, B 2 U 2/18 R und B 2 U 20/18 R

Gesetzliche Grundlagen

§ 8 SGB VII:

(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.
(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
  1. Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
  2. mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
2a. das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird,
3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.
(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.

In Streitfällen sind die Sozialgerichte zuständig.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entfällt der Versicherungsschutz, wenn private Interessen während der Fahrt im Vordergrund der Handlung stehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seit dem Jahre 2003 kommt es ausschließlich auf die Handlungstendenz an.

Krankheitskosten bei einem Wegeunfall zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte sind als Werbungskosten abziehbar
Bundesfinanzhof Urteil vom 19.12.2019, VI R 8/18
Leitsätze:

Aufwendungen in Zusammenhang mit der Beseitigung oder Linderung von Körperschäden, die durch einen Unfall auf einer beruflich veranlassten Fahrt zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte eingetreten sind, können gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG als Werbungskosten abgezogen werden. Sie werden von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale nicht erfasst. Diese erstreckt sich nur auf fahrzeug- und wegstreckenbezogene Aufwendungen.

Pressemitteilung des Bundesfinanzhofs Nr. 15/20 vom 26.03.2020:

Erleidet ein Steuerpflichtiger auf dem Weg zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte einen Unfall, kann er die durch den Unfall verursachten Krankheitskosten als Werbungskosten abziehen. Solche Krankheitskosten werden nicht von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale erfasst, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 19.12.2019 entschieden hat.

Im Streitfall erlitt die Klägerin durch einen Verkehrsunfall auf dem Weg von ihrer ersten Tätigkeitsstätte nach Hause erhebliche Verletzungen. Sie machte die hierdurch verursachten Krankheitskosten, soweit sie nicht von der Berufsgenossenschaft übernommen wurden, als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Finanzamt und Finanzgericht ließen den Werbungskostenabzug nicht zu.

Der BFH erkannte die unfallbedingten Krankheitskosten hingegen als Werbungskosten an. Zwar sind durch die Entfernungspauschale grundsätzlich sämtliche fahrzeug- und wegstreckenbezogene Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte veranlasst sind. Dies gilt auch für Unfallkosten, soweit es sich um echte Wegekosten handelt (z.B. Reparaturaufwendungen). Andere Aufwendungen, insbesondere Aufwendungen in Zusammenhang mit der Beseitigung oder Linderung von Körperschäden, die durch einen Wegeunfall zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte eingetreten sind, werden von der Abgeltungswirkung dagegen nicht erfasst. Solche beruflich veranlassten Krankheitskosten können daher neben der Entfernungspauschale als Werbungskosten abgezogen werden.

Grundsätze zum Wegeunfall

Unfälle auf dem Weg von und zur Arbeit gelten als Arbeitsunfälle.

  • Der Arbeitsweg beginnt erst mit dem Verlassen der Haustür. Damit ist das Durchqueren der Außentür des Gebäudes gemeint. Ein Unfall im Treppenhaus ist kein Wegeunfall.
  • Die Wahl des Verkehrsmittels spielt keine Rolle.
  • Versichert ist der direkte Weg zur Arbeit. Der gewählte Weg muss nicht unbedingt der kürzeste sein. Wenn die Arbeit über eine längere Strecke in kürzerer Zeit erreicht werden kann, ist dies versichert.
  • Ein Tankstellenbesuch gehört nicht zum Arbeitsweg (Bundessozialgericht, Urteil vom 30.01.2020, B 2 U 9/18 R).
  • Bei Fahrgemeinschaften sind Abweichungen vom direkten Weg möglich, wenn sie zur Aufnahme oder zum Absetzen von mitfahrenden Personen dienen.
  • Abweichungen vom direkten Weg sind auch möglich, um Kinder während der Arbeitszeit unterzubringen.
  • Abweichungen vom direkten Weg infolge besonderer Verkehrssituationen sind möglich. Dazu zählen Umleitungen, Verkehrsdichte, Witterungsverhältnisse bzw. das Umfahren von Verkehrsstaus.
  • Kein Versicherungsschutz besteht bei Abweichungen vom direkten Weg, wegen privater Erledigungen. Nach der Unterbrechung lebt der Versicherungsschutz mit dem Erreichen des direkten Weges wieder auf. Die Rechtsprechung hat dabei aber eine Grenze von 2 Stunden herausgebildet. Bei einer Unterbrechung aus eigenwirtschaftlichen Motiven von mehr als 2 Stunden ist der folgende Weg nicht mehr versichert.
  • Anstatt von oder zur Wohnung kann der Weg zur versicherten Tätigkeit auch von einem anderen Ort (einem so genannten dritten Ort) beginnen oder enden. Ein dritter Ort ist dabei jeder Ort, der nicht die Wohnung des Versicherten ist.
  • Die Wegeunfallversicherung schützt nicht gegen Gefahren, die sich erst und allein aus einem Alkoholkonsum ergeben. Dies gilt auch bei Fahruntüchtigkeit wegen Drogeneinflusses bzw. bei Medikamenteneinwirkung.
  • Wenn Mitarbeiter auf dem Weg zum "Home Office" verunglücken, muss geprüft werden, ob der Arbeitnehmer eine berufliche Tätigkeit ausführen wollte (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.11.2018, B 2 U 28/17 R).
  • Der während einer Arbeitspause zurückgelegte Weg zur Nahrungsaufnahme oder zum Einkauf von Lebensmitteln für den alsbaldigen Verzehr am Arbeitsplatz steht unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung (Bundessozialgericht, Urteil vom 2. 12. 2008 - B 2 U 17/07 R).
  • Ein Spaziergang in der Mittagspause ist kein Arbeitsunfall (Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 14.06.2019 - L 9 U 208/17). Auszug aus der Pressemitteilung Nr. 11/2019 des Landessozialgericht Hessen vom 24.07.2019:
    Arbeitnehmer sind gesetzlich unfallversichert, solange sie eine betriebsdienliche Tätigkeit verrichten. Spazierengehen in einer Arbeitspause stellt jedoch eine eigenwirtschaftliche Verrichtung dar. Verunglückt ein Versicherter hierbei, ist dies daher kein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.
    Die Revision wurde nicht zugelassen.
  • Die Wege, die Beschäftigte während der Arbeitszeit zum Aufsuchen der Toilettenräume zurücklegen, sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich unfallversichert.

Wegeunfall vom dritten Ort

Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII muss der Ausgangspunkt oder der Endpunkt des Weges immer der Ort der versicherten Tätigkeit sein. Der andere Punkt des versicherten Weges ist gesetzlich nicht geregelt. Anstatt von oder zur Wohnung kann der Weg zur versicherten Tätigkeit auch von einem anderen Ort (einem so genannten dritten Ort) beginnen oder enden. Ein dritter Ort ist dabei jeder Ort, der nicht die Wohnung des Versicherten ist.

Das Bundessozialgericht hat mit den Urteilen vom 30.01.2020 (B 2 U 2/18 R und B 2 U 20/18 R) entschieden, dass für die Bewertung des Schutzes bei Wegeunfällen von einem sog. dritten Ort keine einschränkenden Kriterien mehr gelten.

Urteil vom 30.01.2020, B 2 U 2/18 R
Leitsätze:

Das objektive Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von einem dritten Ort steht bei einer entsprechenden subjektiven Handlungstendenz unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung, ohne dass es auf einen Angemessenheitsvergleich mit der üblichen Wegstrecke, den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort, die Beschaffenheit der Wege, das benutzte Verkehrsmittel, den Zeitaufwand, das Unfallrisiko oder weitere Kriterien ankommt.

Urteil vom 30.01.2020, B 2 U 20/18 R
Leitsätze:

Das objektive Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von einem dritten Ort steht bei einer entsprechenden subjektiven Handlungstendenz unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung, wenn der Aufenthalt an diesem dritten Ort länger als zwei Stunden dauert, ohne dass es auf den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort oder die Angemessenheit der Entfernung ankommt.

Das Bundessozialgericht hält an der Rechtsprechung zur Zwei-Stunden-Grenze bei einem Aufenthalt an einem sog dritten Ort ausdrücklich fest.


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